Charaktere und ihr Eigenleben

Als ich nach einer langen Pause wieder zu schreiben begann, hatte ich keine konkrete Geschichte im Kopf, sondern mehrere Charaktere.

Manche von ihnen waren mir bereits nahe und brauchten nur einen Rahmen, in dem sie sich ausbreiten und lebendig werden konnten. Andere waren notwendig um die Geschichte voran zu bringen. Ich musste sie also erst kennenlernen und verstehen wie sie funktionieren. Bei manchen war das ein sehr natürlicher Prozess. Andere hat mir jemand „geschenkt“ und ich durfte die Ideen anderer weiter verwenden.

Mit einem bestimmten Charakter habe ich lange gekämpft. Ich wollte einen temperamentvollen Ritter schreiben, der tiefen Groll gegen die herrschende Klasse mit sich schleppt. Ich wusste, wie er sein würde, wie er sich verhalten musste. Aber er blieb flach, weigerte sich, mit mir zu sprechen. Generell fällt es mir schwerer die männlichen Charaktere und ihre Motivation zu verstehen. Aber ihn konnte ich lange, trotz ausführlicher Hintergrundgeschichte, nicht ganz greifen. Umso schöner war es, als er in einer Szene plötzlich zum Leben erwachte und sich von selber schrieb – anders als ich es erwartet hatte. Es war das erste Mal, dass ein Charakter ein Eigenleben entwickelte und irgendwie war ich stolz. Mein leidenschaftlicher Ritter hatte sich selbst schockiert, aber ich war zufrieden.

Garvan saß am Rand des Hofes, sein Schwert auf den Knien. Seine Miene war starr und auf eine sehr blutige Weise verwundert. Die Überreste Feodrans von Weidenfels hatte man beiseitegeschafft, nur der junge Ritter und ein Blutfleck zeugten noch von den Geschehnissen. Die Klinge war verschmiert, Gesicht, Haar und Kleidung Garvans mit Spritzern in langsam trocknenden Rot verziert. Er schien es kaum zu bemerken, so wie er da inmitten des geschäftigen Trubels saß. Die steingrauen Augen waren auf sein Schwert und die Hände gerichtet, die es geschwungen hatten. Als Raskar ihm eine Hand auf die Schulter legte, zuckte er so stark zusammen, dass dieser beide Hände abwehrend hob. „Ho, Garvan. Ich bin es nur.“

Geholfen hat mir vor allem zu schreiben. Schlechte Szenen, mittelmäßige Szenen, Notizen. Zu akzeptieren, dass manches vielleicht im ersten Moment interessant klingt, aber nicht zu diesem Charakter passt. Ich habe oft mehrere Verläufe geschrieben – ihn unterschiedliche Entscheidungen treffen lassen, bis es sich richtig anfühlte. Und ich habe nach einem Charakterbild gesucht. Mir hilft es ungemein, ein Bild zur Figur vor Augen zu haben. Ansonsten brauchte es vor allem Zeit. Manche Charaktere habe ich wieder aus der Geschichte gestrichen, weil sie nicht hineinpassten. Aber bei Garvan hat sich die investierte Zeit und das Vertrauen in den Schreibprozess gelohnt.